Alexie

In diesem Artikel werden die Begriffe Alexie, aphasische Alexie, Aufmerksamkeitslexie, Tiefenlexie, frontale Alexie, Hemialexie, okzipitale Alexie, parietal-temporale Alexie, phonologische Alexie, räumliche Alexie und Oberflächenlexie behandelt. Die vorgenannten Begriffe können Synonyme, ähnliche Störungen, Abweichungen im Gebrauch und Abkürzungen enthalten.

Überblick

Hirnpathologien sind häufig mit Störungen der Lesefähigkeit (Alexie) verbunden. Seit dem 19. Jahrhundert werden 2 Haupttypen von Alexien unterschieden (Alexie mit und ohne erhaltene Schreibfähigkeit). Mitte des 20. Jahrhunderts wurden zwei weitere Arten von Alexie vorgeschlagen (Alexie aufgrund von räumlichen Störungen und Alexie in Verbindung mit einer frontalen Pathologie). In den 1970er und 1980er Jahren wurde ein neuer Ansatz für die Analyse der Alexie entwickelt. Dieser neue Ansatz (psycholinguistische oder kognitive Perspektive) verlagerte den Schwerpunkt von den anatomischen Korrelaten der erworbenen Lesestörungen auf die funktionellen Mechanismen, die den Alexien zugrunde liegen. Es wurde auch über einige spezielle Arten von Alexie berichtet, wie z. B. Alexie beim Lesen von Braille. Zeitgenössische Neuroimaging-Studien haben wesentlich zu einem besseren Verständnis der Gehirnorganisation von Leseprozessen und Lesestörungen beigetragen.

Schlüsselpunkte

– Zwei Haupttypen von Alexien wurden im späten neunzehnten Jahrhundert beschrieben: Alexie ohne Agraphie und Alexie mit Agraphie.

– Mitte des zwanzigsten Jahrhunderts wurden zwei weitere Arten von Alexie vorgeschlagen: räumliche Alexie und frontale Alexie.

– Psycholinguistische Modelle der Alexie unterscheiden zwischen zentralen und peripheren Alexien.

– Mit Ausnahme der räumlichen Alexie sind erworbene Lesestörungen mit einer Pathologie der linken Hemisphäre verbunden – in der Regel mit Schlaganfällen, Tumoren oder Traumata.

– Die Alexie-Rehabilitation wird in der Regel gleichzeitig mit der Aphasie-Rehabilitation durchgeführt.

Historische Anmerkung und Terminologie

Alexie (oder erworbene Legasthenie) bezeichnet eine erworbene Lesestörung, die durch eine Hirnpathologie verursacht wird (Benson und Ardila 1996). Die Alexie ist seit über einem Jahrtausend bekannt, aber erst im zwanzigsten Jahrhundert wurde die Alphabetisierung so weit verbreitet, dass die Alexie ein bedeutendes medizinisches Problem darstellte. Zwei von Dejerine in den Jahren 1891 und 1892 veröffentlichte Fallberichte stellen wichtige Meilensteine in der Erforschung der Alexie dar (Dejerine 1891; Dejerine 1892). In der Arbeit von 1891 beschrieb er einen Patienten, der einen zerebrovaskulären Unfall erlitten hatte, der einen gewissen Grad an Gesichtsfelddefekt auf der rechten Seite und leichte Schwierigkeiten beim Benennen und Verstehen gesprochener Sprache zusammen mit einem vollständigen Verlust der Lesefähigkeit zur Folge hatte. Der Patient konnte nichts anderes schreiben als seine Unterschrift. Die gesprochene Sprache verbesserte sich, aber die Alexie und Agraphie blieben bis zu seinem Tod im Wesentlichen unverändert. Die Obduktion ergab einen alten Infarkt im linken Parietallappen, der drei Viertel des Gyrus angularis umfasste und bis tief in den Seitenventrikel reichte (Dejerine 1891). Ein Jahr später berichtete Dejerine über einen zweiten Patienten, der eine Leseunfähigkeit, aber keine anderen Sprachstörungen aufwies. Der einzige neurologische Befund war eine Hemianopie rechts. Im Gegensatz zum ersten Fall konnte dieser Patient, obwohl er bis auf einzelne Buchstaben nicht lesen konnte, ausreichend schreiben. Vier Jahre später führte ein zweiter vaskulärer Unfall zum Tod des Patienten. Bei der Obduktion wurden 2 verschiedene Infarkte festgestellt: Bei einem Infarkt handelte es sich um eine große Erweichung, die den linken Gyrus angularis betraf und offensichtlich jüngeren Datums war, und bei dem anderen Infarkt handelte es sich um einen alten gliotischen Infarkt, der die mediale und inferiore Seite des linken Okzipitallappens und das Splenium des Corpus callosum betraf. Der alte Infarkt war die Quelle der Alexie ohne Agraphie (Dejerine 1892).

Die Alexie ohne Agraphie (auch bekannt als okzipitale Alexie oder reine Alexie) und die Alexie mit Agraphie (parietal-temporale Alexie oder zentrale Alexie) wurden in den folgenden Jahren umfassend bestätigt. Sie stellen die klassischen alexischen Syndrome dar. Ein drittes, klinisch eigenständiges Alexiasyndrom, die frontale Alexie, die mit einer Pathologie in den frontalen Spracharealen verbunden ist, wurde vorgeschlagen (Benson 1977). Leseschwierigkeiten bei Pathologien der rechten Hemisphäre sind dagegen schon seit langem bekannt. In der neurologischen und neuropsychologischen Literatur finden sich einige Hinweise auf räumliche Alexie und visuell-räumliche Lesestörungen im Zusammenhang mit rechtshemisphärischen Schädigungen (Hecaen und Marcie 1974). Nur wenige Studien haben sich jedoch den visuell-räumlichen Lesestörungen unter Verwendung großer Stichproben von Patienten mit rechtshemisphärischer Pathologie genähert (Hecaen 1972; Ardila und Rosselli 1994).

Diese 4 Arten von Alexien (ohne Agraphie, mit Agraphie, frontal und räumlich) stellen die neurologische, klassische oder neuroanatomisch basierte Klassifikation von Alexien dar. Insbesondere bei der parietal-temporalen Alexie (mit Agraphie) ist jedoch eine erhebliche Variabilität im Störungsmuster zu beobachten. In den 1970er und 1980er Jahren wurde ein neuer Ansatz zur Analyse der Alexie entwickelt (Marshall und Newcombe 1973; Caramazza et al 1985). Dieser Ansatz ist in der Regel als psycholinguistische oder kognitive Sichtweise der Alexie bekannt. Das Interesse verlagerte sich von den anatomischen Korrelaten der erworbenen Lesestörungen zu den funktionellen Mechanismen, die den Alexien zugrunde liegen. Es sei darauf hingewiesen, dass bei der psycholinguistischen oder kognitiven Interpretation der Alexie die Bezeichnung “erworbene Legasthenie” der Bezeichnung “Alexie” vorgezogen wird.

Die linguistischen und kognitiven Ansätze zur Alexie erforderten die Entwicklung von Modellen für das normale Lesen. Es wurden mehrere kognitive Modelle für normales Lesen vorgeschlagen, die teilweise übereinstimmen (Coltheart 1978; Caramazza et al 1985). Im Allgemeinen gehen die meisten dieser Modelle davon aus, dass das Lesen nach der anfänglichen Buchstabenidentifikation auf zwei sprachlich unterschiedlichen Wegen erfolgt: (1) der direkte Weg, bei dem das geschriebene Wort mit einem visuellen Wort im lexikalischen Speicher assoziiert wird; und (2) der indirekte Weg, bei dem das geschriebene Wort nach einem graphophonemischen Regelwerk in ein gesprochenes Wort umgewandelt wird und die Bedeutung des Wortes durch seine phonologische Vermittlung erlangt wird. Wenn eines dieser beiden Lesesysteme verändert wird, können unterschiedliche Fehlermuster beobachtet werden. In einigen Fällen können beide Systeme gleichzeitig gestört sein.

Psycholinguistische Modelle der Alexie unterscheiden in der Regel zwischen zentralen und peripheren Alexien (Warrington und Shallice 1980). Bei zentralen Alexien kann der Patient ein Wort zwar korrekt wahrnehmen, hat aber Schwierigkeiten, es entweder mit semantischer oder phonologischer Verarbeitung zu erkennen. Es werden drei verschiedene Arten von zentralen Alexien unterschieden: (1) phonologische, (2) oberflächliche und (3) tiefe. Jede zeichnet sich durch ein bestimmtes Muster von Lesefehlern (Paralexien) aus. Bei den peripheren Alexien entspricht die Leseschwäche eher einer Wahrnehmungsstörung. Der Patient hat Schwierigkeiten, eine zufrieden stellende visuelle Wortverarbeitung zu erreichen (Riddoch 1991). In der Regel werden 3 verschiedene Arten von peripheren Alexien unterschieden: (1) Buchstabe-für-Buchstabe-Lesen, (2) Vernachlässigungslexie und (3) Aufmerksamkeitslexie.

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