Die Wissenschaft hinter dem kulturellen Stigma

Im antiken Griechisch und Latein war ein Stigma ein Brandzeichen, das eine Person, z. B. einen Sklaven, der als minderwertig angesehen wurde, markierte. Heute steht das Wort “Stigma” für das unsichtbare Zeichen, das durch negative soziale Wahrnehmungen entsteht, ein Zeichen, das genauso weh tun kann wie ein physisches Brandzeichen.

Wissenschaftler betrachten Stigma als die Eigenschaften, die in einem bestimmten sozialen Kontext abgewertet werden und sich negativ auf Menschen auswirken. Es gibt zahlreiche Belege dafür, wie Stigma die psychische Gesundheit durch verschiedene Mechanismen untergraben kann, z. B. durch einen eingeschränkten Zugang zu Ressourcen.

Forscher erheben Daten zu Stigma in der Regel durch subjektive Selbsteinschätzungen. Bestimmte individuelle Faktoren – wie z. B. Defizite bei der Emotionsregulierung – können jedoch beeinflussen, wie Menschen Stigma wahrnehmen, was die Messung der Stigmatisierung beeinträchtigen kann. Die Forscher Charles L. Burton, Katie Wang und John E. Pachankis von der Yale University wollten ein objektiveres Maß für Stigmatisierung schaffen, das die Ungleichheiten in der sozialen, wirtschaftlichen und politischen Macht widerspiegelt, die unabhängig von den subjektiven Erfahrungen einer Person bestehen.

Burton und Kollegen führten eine Reihe von Studien durch, die in der Fachzeitschrift Clinical Psychological Science veröffentlicht wurden und sich mit der Notwendigkeit eines objektiven Maßes für Stigma-Erfahrungen befassten:

“In der vorliegenden Studie wird ein neuartiges, objektives Maß für kulturelles Stigma eingeführt”, erklären die Forscher, “das wir dann verwendet haben, um die Zusammenhänge zwischen Stigma, Defiziten bei der Emotionsregulierung und negativen Auswirkungen auf die psychische Gesundheit bei Personen zu bewerten, die ein breites Spektrum von stigmatisierten Eigenschaften aufweisen.”

In der ersten Studie identifizierten die Forscher zunächst 93 stigmatisierte Identitäten, Gesundheitszustände und persönliche Merkmale, die über das enge Spektrum sexueller und rassischer/ethnischer Stigmata hinausgehen, auf die sich Forscher normalerweise konzentriert haben. Dann baten sie Akademiker, die als Stigmaexperten gelten, und Personen aus der Öffentlichkeit, ihre Bereitschaft zu bewerten, mit verschiedenen Arten von Personen zu interagieren, die das jeweilige Stigma aufweisen, z. B. mit einem Arbeitskollegen, einem Kinderbetreuer oder einer potenziellen Tochter oder einem Schwiegersohn. Der daraus resultierende Index spiegelte den Grad der Stigmatisierung der jeweiligen Identität oder Eigenschaft auf soziokultureller Ebene wider.

In der zweiten Studie wurde der Zusammenhang zwischen kultureller Stigmatisierung, Defiziten bei der Emotionsregulierung und zwei negativen Auswirkungen auf die psychische Gesundheit untersucht: depressive Symptome und Alkoholprobleme. Es ist bekannt, dass Stigma-Erfahrungen Stress auslösen, der die Fähigkeit zur Emotionsregulierung beeinträchtigen und negative psychische Symptome hervorrufen kann. Obwohl diese Zusammenhänge in früheren Studien beschrieben wurden, ist wenig darüber bekannt, wie allgemeiner Lebensstress (d. h. chronische Stressoren, die nicht auf Vorurteile/Stigmatisierung zurückzuführen sind) die Beziehung zwischen diesen Variablen beeinflussen kann.

Unter Verwendung der in Studie 1 erstellten Skala baten die Forscher die Teilnehmer, die Stigmata auszuwählen, mit denen sie sich identifizierten, und dann dasjenige einzustufen, von dem sie das Gefühl hatten, dass es sie am meisten beeinflusste oder für sie am wichtigsten war. Die Forscher wandelten diese Einstufungen in eine kulturelle Stigma-Bewertung um. Sie erfassten auch Daten zu den Defiziten der Teilnehmer bei der Emotionsregulierung, zu depressiven Symptomen, Alkoholproblemen und allgemeinem Lebensstress. Um die besonderen Auswirkungen der kulturellen Stigmatisierung zu ermitteln, kontrollierten die Forscher die Wahrnehmung der Stigmatisierung durch die Einzelpersonen mit Hilfe der Skala für alltägliche Diskriminierung, die die Häufigkeit misst, mit der eine Person aufgrund ihrer am stärksten stigmatisierten Identität zwischenmenschliche Misshandlungen erfährt.

Die Ergebnisse zeigten, dass Defizite bei der Emotionsregulierung der Mechanismus waren, der kulturelle Stigmatisierung und Depression sowie kulturelle Stigmatisierung und Alkoholprobleme miteinander verbindet. Allgemeiner Lebensstress verstärkte den indirekten Effekt der Emotionsregulation auf den Zusammenhang zwischen kultureller Stigmatisierung und sowohl depressiven Symptomen als auch Alkoholkonsumproblemen. Mit anderen Worten: Die Ergebnisse deuten darauf hin, dass eine stärkere kulturelle Stigmatisierung eine Person anfälliger für allgemeinen Lebensstress und dessen Auswirkungen auf negative psychische Gesundheitsprobleme machen kann.

Die vorliegende Studie leistet einen Beitrag zur Stigma- und Emotionsregulierungsforschung, indem sie ein objektives Maß für kulturelle Stigmatisierung entwickelt. Diese Skala bietet Forschern ein Instrument, mit dem sie die Auswirkungen kultureller Stigmatisierung unabhängig von der Wahrnehmung der Stigmatisierung durch den Einzelnen beobachten können. Burton und Kollegen schlagen vor, dass künftige Forschungen untersuchen sollten, wie dieses Maß so modifiziert werden kann, dass es intersektionelles Stigma darstellen kann, da Menschen mehrere Stigmata erleben können, die für ihr Leben von Bedeutung sind.

Der Nachweis einer moderierenden Beziehung zwischen allgemeinem Lebensstress und der indirekten Auswirkung von Stigma auf die psychische Gesundheit kann Auswirkungen auf diejenigen haben, die sich für stigmatisierte Gruppen einsetzen. Die Unterstützung von Personen, die von Stigmatisierung betroffen sind, bei der Verbesserung der Emotionsregulierungsfähigkeiten und der Anpassung an den allgemeinen Lebensstress kann die Auswirkungen kultureller Stigmatisierung auf ihre erhöhte Anfälligkeit für psychische Gesundheitsprobleme abschwächen.

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