Fleischtunnel – Ein bis zum Zerreißen gedehntes Ohrläppchen

Ein eisiger Wind zerrt durch die Stadt und trägt in seinen Böen die eine oder andere Schneeflocke. Ich werfe einen Blick auf mein Handy. Auf dem Display erscheint eine Karte des Berliner Nollendorfplatzes und der umliegenden Straßen. Ich mache mich auf den Weg über den Platz zu meinem Ziel: dem Titanen-Piercing-Studio in einer der Seitenstraßen. Dort will ich mich über die so genannten Flesh Tunnels informieren.

Was sind Flesh Tunnels, fragt man sich. Wenn man sich in einem überfüllten Zug oder in einer belebten Einkaufsstraße umsieht, findet man sie: diese riesigen Löcher in den Ohrläppchen mancher Menschen. Der Trend, sich von Piercern Ringe in verschiedenen Formen und Größen in die Ohrläppchen stechen zu lassen, ist seit einigen Jahren im Kommen. Manche Löcher sind so groß, dass man hindurchsehen kann.

Das weiße Piercing-Studio

Brian Jenne

Brian Jenne ist ein Piercing-Profi in Berlin

Umrahmt von diesen braunen Kacheln, die ich mit den 50er Jahren assoziiere, fällt mir das Fenster des Studios sofort ins Auge. Genau in der Mitte, auf einem weißen Regal, dominiert ein menschlicher Plastikkopf die Szene. Ich kann nicht viel von seinem Gesicht erkennen, denn er trägt eine schwarze Ledermaske mit Katzenohren. Darunter, fein säuberlich geordnet und farblich gekennzeichnet, befinden sich reihenweise verschiedene Piercings. Einige sind aus buntem Plastik oder Glas, andere sind aus Gold, Silber, Holz oder sogar Bernstein. Obwohl ich keine Ahnung habe, für welche Körperteile sie gemacht sind, ist die Auswahl ziemlich beeindruckend.

Leicht nervös, weil ich noch nie in einem Piercingstudio war, steige ich die Treppe hinauf und trete ein. Zwei Männer blicken hinter dem Tresen hervor. Einer von ihnen muss Mitte zwanzig sein, hat einen roten Bart, Tattoos und große Löcher in den Ohren. Der andere Mann ist groß, vielleicht Mitte dreißig, trägt eine Brille und hat einen dichten, grau melierten Bart. Sein langes dunkles Haar ist zu einem ordentlichen Pferdeschwanz zurückgebunden. Auch er hat mehrere Piercings im Gesicht und in den Ohren. “Brian?” frage ich. Der größere der beiden Männer nickt, “das bin ich.”

Das Studio ist – besser kann man es nicht beschreiben – weiß. Im hellen Eingangsbereich sind ein paar Glasvitrinen verstreut, in denen weitere Schmuckstücke ausgestellt sind: Tunnel und andere Piercings aus Titan, Holz oder Stahl. Einige sind mit kleinen Edelsteinen verziert, die im Licht der Auslage glitzern. An den Wänden hängen Poster mit verschiedenen Piercings und Tattoos. Wir nehmen auf einer hellgrauen Ledercouch Platz.

Flesh Tunnel oder Plugs? Ja, da gibt es einen Unterschied

Flesh Tunnel

Brian hat in den 1990er Jahren in Amerika eine Ausbildung zum Tätowierer und Piercer gemacht. Seit fast sieben Jahren arbeitet er als Piercer in Berlin. Während er spricht, streicht er sich immer wieder über seinen langen Bart. Ich beobachte ihn verstohlen. Von meinem Platz aus kann ich das Loch im Knorpel genau zwischen seinen Nasenlöchern sehen, wo er früher ein Septum, einen Nasenring, hatte. Auch seine Ohren sind an mehreren Stellen durchlöchert.

Aus meiner Position kann ich nur sein linkes Ohr mustern. Heute trägt er keinen Fleischtunnel, sondern einen sogenannten Plug. Als ich ihn danach frage, lächelt Brian über meine Unwissenheit: “Na ja, das ist wie ein Fleischtunnel, nur ohne das Loch”. Seine Finger streichen über den schwarzen Stecker in seinem Ohr. Er sieht ein bisschen aus wie ein großer Knopf, denke ich.

Das Loch in Brians Ohr hat inzwischen einen Durchmesser von 26 Millimetern oder 2,6 Zentimetern. Es dauert mindestens zwei Jahre, bis ein Loch dieser Größe entstanden ist. Die meisten Menschen wissen nicht, dass ein Flesh Tunnel Zeit und Geduld erfordert. “Die Leute kommen in den Laden und wollen sofort einen Flesh Tunnel. Sie verstehen nicht, dass es mehrere Monate dauert”, erklärt er.

Wie wird ein Fleischtunnel hergestellt?

Ich frage ihn, wie Fleischtunnel hergestellt werden. “Zuerst sticht man ein kleines Loch in die Mitte des Ohrläppchens. Dieses Loch hat die gleiche Größe wie ein normaler Ohrring, etwa 1,2 bis 1,6 Millimeter. Alle sechs bis acht Wochen wird das Loch gedehnt, indem ein neuer Tunnel eingesetzt wird, der einen Millimeter größer ist als der letzte”, erklärt Brian. Ein Loch kann jedoch erst dann erweitert werden, wenn der Heilungsprozess abgeschlossen ist. Und das hängt sehr stark vom Hauttyp des Einzelnen ab. “Manche Kunden können nach sechs Wochen die nächste Größe einsetzen, andere müssen drei Monate warten”.

Eine andere Möglichkeit, einen Fleischtunnel zu schaffen, ist das Ausstanzen eines drei bis fünf Millimeter großen Lochs, erklärt Brian. Gleichzeitig wird ein Pfropfen in die Wunde eingesetzt. Obwohl diese Methode viel schneller ist als das anstrengende Dehnen, zieht Brian letzteres vor. “Man verliert mehr Blut, wenn ein Loch dieser Größe aus dem Ohrläppchen gestanzt wird, und das Risiko einer Infektion ist viel größer.”

Das Dehnungsverfahren ist nicht billig. Das Durchstechen eines Ohres kostet etwa 25 Euro. Bei jeder Erweiterung zahlt man nicht nur den Schmuck, sondern auch den Dehnungsvorgang. Das Titanen-Piercing-Studio berechnet für die Erweiterung etwa fünf Euro, ein Tunnel von 1,2 Millimetern kostet etwa 17 Euro. Und das ist nur für ein Ohr. Schmuck für beide Ohren würde etwa 30 Euro kosten, sagt Brian.

Hygiene ist das A und O

TITANEN Piercingatelier Berlin

Das zeigt, wie steril ein Piercingraum aussehen sollte – ähnlich wie beim Zahnarzt

Wir stehen auf. Brian führt mich in den hinteren Teil des Ladens, einen hell erleuchteten Korridor entlang, in einen weiteren Raum. “Hier passiert die Magie”, sagt er. Der Piercing-Raum sieht ein bisschen aus wie ein Operationssaal aus einem Film. Zugegeben, es gibt nicht so viele Instrumente und keine weiß gekleideten Ärzte, die mit Gesichtsmasken herumlaufen, aber die Atmosphäre ist ähnlich. Die weißen Fliesen verleihen dem Raum ein steriles Aussehen, und der hellgraue Lederstuhl erinnert mich an einen Zahnarzt. An der Wand, direkt über einer polierten Metallbank, befinden sich reihenweise kleine Schubladen mit Hunderten von Piercings in verschiedenen Formen und Größen. Jedes Schmuckstück ist einzeln verpackt. “Das Gesundheitsamt hat sehr strenge Hygienestandards”, erklärt Brian. “Alle sechs Monate müssen wir die Verfallsdaten auf jeder Packung überprüfen. Wenn eine Verpackung abgelaufen ist, muss das Piercing sterilisiert und neu verpackt werden.”

Die Tatsache, dass viele Menschen nicht verstehen, wie wichtig der richtige Schmuck für die Wundheilung ist, macht ihn traurig, sagt Brian. Vor allem die sozialen Medien sind daran schuld. “Andere Piercing-Profis posten teuren Schmuck auf Instagram oder Facebook als eine Form der Werbung. Das sieht vielleicht toll aus, aber diese Art von Schmuck ist für den Heilungsprozess nicht förderlich, weil er sich nicht richtig reinigen lässt und Infektionen verursachen kann.” Zu Beginn des Dehnungsprozesses sollte diese Art von Schmuck nicht verwendet werden, und das gilt nicht nur für Flesh Tunnels, sondern für alle Arten von Piercings.

Flesh Tunnels und Vorurteile gehen Hand in Hand

Ich möchte wissen, ob Brian wegen seiner Flesh Tunnels jemals Probleme mit Vorurteilen gehabt hat. Mein Bauchgefühl sagt mir, dass die meisten Menschen den Anblick dieser riesigen Ohrläppchenlöcher als gewöhnungsbedürftig empfinden. Aber Brian zuckt mit den Schultern. In Berlin und generell in Europa hat er nie Probleme gehabt. In Amerika ist das allerdings ganz anders. “Vor etwa sieben Jahren ging ich durch einen Park in Chicago und die Leute starrten mich an. Lange Zeit konnte ich nicht verstehen, warum. Sie waren einfach nicht an den Anblick meiner Tunnel und anderer Piercings gewöhnt. Und damals hatte ich noch nicht einmal das sehr auffällige Tattoo auf meiner Hand”, lacht er.

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