The Mental Elf

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Ängste und Depressionen (“internalisierende Störungen”) gehören zu den häufigsten Arten von Psychopathologie bei jungen Menschen und tragen maßgeblich zur Krankheitslast in dieser Bevölkerungsgruppe bei (Mokdad et al., 2016).

Diagnosesysteme wie DSM und ICD charakterisieren internalisierende Probleme als eine Reihe von unterschiedlichen, krankheitsähnlichen Entitäten. Diese Diagnosesysteme haben zwar viele Vorteile (wie z. B. die Unterstützung der klinischen Entscheidungsfindung und die Bereitstellung einer gemeinsamen Sprache für den Bereich), aber sie haben auch Grenzen. So sind beispielsweise die Schwellenwerte, ab denen Symptome zu einer “Störung” werden, willkürlich, es gibt erhebliche Symptomüberschneidungen zwischen den einzelnen Störungen, und die Komorbidität ist hoch.

Einige Forscher haben vorgeschlagen, dass die Einschränkungen dieser Diagnosesysteme für das langsame Tempo neuer Entdeckungen in der Psychiatrie verantwortlich sind und dass datengesteuerte Ansätze, die sich auf Symptome statt auf Diagnosen konzentrieren, unser Verständnis der Natur der Psychopathologie erheblich verbessern könnten (z. B. Kotov et al., 2017).

Die Netzwerkperspektive ist ein Beispiel für einen datengesteuerten Ansatz. Sie konzeptualisiert die Psychopathologie als ein komplexes Netzwerk von direkt miteinander verbundenen Symptomen und ermöglicht es uns,:

  • Aufzeigen, wie und wo Symptome zusammenhängen (durch Erforschung der Verbindungen zwischen Symptomen)
  • Erkennen, welche Symptome am wichtigsten sind (durch Erforschung der so genannten “Zentralität”; sehr zentrale Symptome sind diejenigen, die am wichtigsten sind, und diese beeinflussen andere Symptome stark)
  • Verstehen, wo sich diagnostische Kategorien unterscheiden und wo sie sich überschneiden (durch Erforschung der Clusterung von Symptomen in “Gemeinschaften”).

Vorangegangene Forschungen haben die Netzwerkanalyse zur Untersuchung der Psychopathologie bei Erwachsenen eingesetzt und ein dichtes Netzwerk von Symptomen mit starken Assoziationen sowohl innerhalb als auch zwischen traditionellen diagnostischen Konstrukten gefunden, was darauf hindeutet, dass die Grenzen von Diagnosen nicht klar definiert sind (Boschloo et al, 2015).

Diese aktuelle Open-Access-Studie von Eoin McElroy und Praveetha Patalay nutzte die Netzwerkanalyse, um die Eindeutigkeit der diagnostischen Grenzen für internalisierende Störungen bei Kindern und Jugendlichen zu untersuchen (McElroy & Patalay, 2019).

Internalisierende Störungen (z. B. Depression, Angst, Zwangsstörung) sind häufig komorbid, was Fragen zu den Grenzen zwischen diesen diagnostischen Kategorien aufwirft.

Internalisierende Störungen (z. B. Depressionen, Angstzustände, Zwangsstörungen) sind häufig komorbid, was Fragen zu den Grenzen zwischen diesen diagnostischen Kategorien aufwirft.

Methoden

Stichprobe

Für die Studie wurden routinemäßig erhobene Daten von 81 Child and Adolescent Mental Health Services in England aus den Jahren 2011 bis 2015 verwendet. Insgesamt wurden Daten von 37.162 Kindern und Jugendlichen im Alter von 8 bis 18 Jahren (63 % weiblich) einbezogen.

Messungen

Internalisierungssymptome wurden mit der Revised Children’s Anxiety and Depression Scale (RCADS) gemessen, einer 47-Item-Selbstberichtsskala. Die Items können summiert werden, um DSM-basierte Unterskalen zu bilden, die folgenden Symptomen entsprechen:

  • Trennungsangst,
  • Soziale Phobie,
  • Generalisierte Angst,
  • Panik,
  • OCD (Zwangsstörung) und
  • Major Depression.

Analyse

Hinweis: Die Netzwerkanalyse ist etwas kompliziert. Statistik-Nerds sollten McNally (2016) lesen, um mehr über die Methoden zu erfahren, die diesem Ansatz zugrunde liegen, aber hier ist eine kurze Zusammenfassung dessen, was die Autoren taten:

Die Netzwerkanalyse wurde durchgeführt, indem Korrelationen für die 47 Symptomvariablen berechnet wurden und diese dann verwendet wurden, um ein partielles Korrelationsnetzwerk mit dem R-Paket “qgraph” zu schätzen. Die Autoren untersuchten auch die Unterschiede zwischen den Geschlechtern und dem Alter, indem sie die Stichprobe in Untergruppen aufteilten (Mädchen und Jungen; 8-11, 12-14 und 15-18 Jahre).

Ergebnisse

Gesamtstruktur des Netzwerks

Insgesamt gab es eine “Vielzahl von überwiegend schwachen Verbindungen zwischen Symptomen”. Die zentralsten (d.h. die wichtigsten/einflussreichsten) Symptome in der gesamten Stichprobe waren diejenigen, die mit Panik, Angst, sich in der Öffentlichkeit lächerlich zu machen, Sorgen und Wertlosigkeit zusammenhingen.

Diagnosegrenzen

Es gab kaum eine Clusterung der Symptome in “Gemeinschaften” (d.h. Diagnosen). Das Netzwerk mit der besten Übereinstimmung identifizierte sechs Gemeinschaften, aber die Gesamtstärke der Verbindung war gering, und es gab weit verbreitete gemeinschaftsübergreifende Verbindungen, was auf erhebliche Überschneidungen zwischen Symptomen in verschiedenen Gemeinschaften hindeutet.

Geschlechts- und altersbedingte Unterschiede

Die Gesamtstruktur und Clusterung des Netzwerks war für Mädchen und Jungen sowie für Kinder unterschiedlichen Alters ähnlich. Dies deutet darauf hin, dass internalisierende Probleme für diese verschiedenen Gruppen nicht mehr oder weniger ausgeprägt sind. Allerdings war die Konnektivität der Netzwerke bei älteren Kindern größer, was darauf hindeutet, dass die Zusammenhänge zwischen den Symptomen mit der Entwicklung der Kinder zunehmen. Die Autoren vermuten, dass dies darauf zurückzuführen sein könnte, dass sich internalisierende Symptome im Laufe der Zeit gegenseitig verstärken.

Es gab auch Unterschiede in der Zentralität der Symptome zwischen den Altersgruppen. Unruhe und Müdigkeit waren die zentralsten Symptome in den ältesten Altersgruppen, während Ängste (z. B. zu Bett gehen, schlechte Leistungen in der Schule) in der jüngsten Gruppe am zentralsten waren. Da sehr zentrale Symptome andere Symptome stark beeinflussen, könnten sie wichtige Ziele für Interventionen sein.

Internalisierende Symptome bildeten eine stark vernetzte Netzwerkstruktur, mit wenig ausgeprägter Clusterung von Symptomen, die zu den DSM-Diagnosekriterien gehörten.

Internalisierende Symptome bildeten eine stark vernetzte Netzwerkstruktur, mit wenig ausgeprägter Clusterung von Symptomen, die zu den DSM-Diagnosekriterien gehörten. (Bild in voller Größe anzeigen).

Schlussfolgerungen

  • Internalisierende Probleme bei Kindern und Jugendlichen zeichnen sich durch viele schwache Verbindungen zwischen verschiedenen Symptomen aus, wobei die Symptome kaum in “Gemeinschaften” geclustert sind und es an klaren diagnostischen Grenzen mangelt.
  • Dies stellt die Vorstellung von internalisierenden Problemen als eine Reihe von unterschiedlichen Störungen in Frage.
Die in dieser Untersuchung vorgestellte, stark vernetzte Netzwerkstruktur stellt die Vorstellung in Frage, dass internalisierende Störungen diskrete diagnostische Einheiten sind.

Die in dieser Untersuchung vorgestellte, stark vernetzte Netzwerkstruktur stellt die Vorstellung in Frage, dass internalisierende Störungen diskrete diagnostische Einheiten sind.

Stärken und Grenzen

  • Dies war die erste Studie, die die Netzwerkanalyse nutzte, um die Natur internalisierender Symptome bei Kindern und Jugendlichen zu erforschen
  • Sie profitierte von einer großen klinischen Stichprobe, die ein breites Altersspektrum abdeckte (8 bis 18 Jahre)(8 bis 18 Jahre)
  • Die große Stichprobe war eine besondere Stärke, da (wie die Autoren selbst sagen) viele der früheren Studien in diesem Bereich aufgrund kleiner Stichproben möglicherweise nicht ausreichend aussagekräftig waren (siehe McElroy & Patalay, 2019)
  • Die Aufteilung der Stichprobe in Untergruppen nach Geschlecht und Alter war eine Stärke, und trug dazu bei, Unterschiede in der Art der internalisierenden Symptome für diese Gruppen zu identifizieren
  • Die Studie verwendete einen Algorithmus zur Identifizierung von Symptomclustern, was eine Stärke gegenüber früheren Forschungen darstellt, die sich meist auf visuelle Inspektionen von Netzwerkgraphen zur Identifizierung von Clustern verlassen haben
  • Der RCADS, der zur Messung von internalisierenden Symptomen verwendet wurde, ist von DSM-Kriterien geprägt, die nicht unbedingt das gesamte Spektrum internalisierender Probleme widerspiegeln
  • Der RCADS enthält auch keine Subskalen für einige DSM-Störungen, wie Agoraphobie oder spezifische Phobien.
Da bei älteren Kindern eine stärkere Konnektivität zwischen den Symptomen festgestellt wurde, ist es möglich, dass sich internalisierende Symptome im Laufe der Zeit gegenseitig verstärken.

Da bei älteren Kindern eine stärkere Konnektivität zwischen den Symptomen festgestellt wurde, ist es möglich, dass sich internalisierende Symptome im Laufe der Zeit gegenseitig verstärken.

Implikationen für die Praxis

Da bei älteren Kindern eine stärkere Verbindung zwischen den Symptomen festgestellt wurde, ist es möglich, dass sich internalisierende Symptome mit der Zeit gegenseitig verstärken. Andere Untersuchungen haben gezeigt, dass Kinder mit stärker vernetzten Symptomen weniger gut auf eine Behandlung ansprechen, was die Bedeutung einer frühzeitigen Intervention unterstreicht. Die Ergebnisse unterstreichen auch die Notwendigkeit für Kliniker, sich auf einzelne Symptome und nicht auf Diagnosen zu konzentrieren, wie Warren Mansell in diesem früheren Blog von Mental Elf argumentiert.

Aus Studien wie dieser ergeben sich jedoch noch weitere Fragen, wie z. B.: Welchen Wert haben Diagnosesysteme für psychische Probleme, und sollten wir sie ganz abschaffen? Diese Fragen sind keineswegs neu; seit einiger Zeit gibt es eine breite Debatte über das Wesen der Psychopathologie und den Wert von Diagnosesystemen (siehe Clark et al. (2017) oder Kotov et al. (2017)).

Wie die Autoren betonen:

Das Fehlen einer ausgeprägten Clusterung, die unseren am weitesten verbreiteten diagnostischen Kriterien entspricht, und das hohe Maß an gemeinschaftsübergreifenden Assoziationen, das in der vorliegenden Studie beobachtet wurde, unterstützen die jüngsten Forderungen nach einer stärker empirisch basierten Konzeptualisierung psychischer Erkrankungen, die sich von distinkten Störungsentitäten wegbewegt.

Klassifizierungssysteme, die einen dimensionalen Ansatz für psychische Erkrankungen verfolgen, wie die Hierarchische Taxonomie der Psychopathologie (HiTOP) oder die Research Domain Criteria (RDoC), bieten praktikable Alternativen für die Art und Weise, wie wir psychische Probleme erforschen, behandeln und verstehen. Einige Forscher argumentieren, dass wir durch die Annahme dieser dimensionalen Ansätze größere und schnellere Fortschritte in so unterschiedlichen Bereichen wie der Identifizierung von Biomarkern für psychische Gesundheitsprobleme, der Ermittlung genetischer und umweltbedingter Risikofaktoren und der Verbesserung der Wirksamkeit von Behandlungen erzielen können (Kotov et al., 2017; McNally, 2016).

Systeme wie DSM und ICD sind jedoch tief in die klinische Praxis und die staatliche Politik eingebettet, und einige argumentieren, dass sie für eine wirksame klinische Entscheidungsfindung hilfreich, wenn nicht sogar unerlässlich sind. Bislang gibt es kaum einen Konsens darüber, wie psychische Erkrankungen am besten konzeptualisiert werden können. Aus dieser Studie geht jedoch klar hervor, dass internalisierende Probleme bei Kindern und Jugendlichen durch eine Reihe von stark miteinander verbundenen Symptomen gekennzeichnet sind, wobei es kaum Anhaltspunkte dafür gibt, dass sich diese Symptome zu eigenständigen Störungen bündeln.

Die Ergebnisse unterstützen die jüngsten Forderungen nach einer stärker empirisch fundierten Konzeptualisierung psychischer Erkrankungen, die von eigenständigen Störungen abrückt.

Die Ergebnisse unterstützen die jüngsten Forderungen nach einer stärker empirisch basierten Konzeptualisierung psychischer Erkrankungen, die sich von distinkten Störungen wegbewegen.

Interessenkonflikte

Keine.

Links

Primäres Papier

McElroy E & Patalay P. (2019). In search of disorders: Internalisierende Symptomnetzwerke in einer großen klinischen Stichprobe. The Journal of Child Psychology and Psychiatry, 60(8), 897-906.

Weitere Referenzen

Boschloo L, van Borkulo CD, Rhemtulla M, Keyes KM, Borsboom D & Schoevers RA (2015). The network structure of symptoms of the Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders. PLoS One, 10(9), e0137621.

Clark LA, Cuthbert B, Lewis-Fernandez R, Narrow WE & Reed GM (2017). Drei Ansätze zum Verständnis und zur Klassifizierung psychischer Störungen: ICD-11, DSM-5, and the National Institute of Mental Health’s Research Domain Criteria (RDoC). Psychological Science in the Public Interest, 18(2), 72-145.

Kotov R, Krueger RF, Watson D, Achenbach TM, Althoff RR, Bagby RM, Brown TA, Carpenter WT, Caspi A, Clark LA, et al., (2017). The Hierarchical Taxonomy of Psychopathology (HiTOP): A dimensional alternative to traditional nosologies (PDF). Journal of Abnormal Psychology, 126(4), p454-477.

Mansell W. (2018) The transdiagnostic approach to anxiety: The case is made (again!) #TransDX2018. The Mental Elf, 17 Sep 2018.

McNally RJ (2016) Can network analysis transform psychopathology? Behaviour Research and Therapy, 86, 95-104.

Mokdad AH, Forouzanfar MH, Daoud F, Mokdad AA, Bcheraoui CE, Moradi-Lakeh M, Kyu HH, Barber RM, Wagner J, Cercy K, et al. (2016). Global burden of diseases, injuries, and risk factors for young people’s health during 1990-2013: A systematic analysis for the Global Burden of Disease Study 2013. The Lancet, 387, 2383-2401.

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  • Foto von Luke Pennystan auf Unsplash

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