Asexualität wird häufig mit der Anziehung zu niemandem gleichgesetzt. Doch was bedeutet es eigentlich, sich zu jemandem hingezogen zu fühlen? Was sind die oft ignorierten, komplexen Aspekte der Anziehung? Und inwiefern eröffnet Asexualität die Möglichkeit, diese Themen zu erforschen? Wenn ich meine eigene Identität als asexuelle Person in sozialen Räumen zum Ausdruck bringe, treffe ich oft auf viele Menschen, die nicht asexuell sind, die mir mit Aussagen wie “Du bist also asexuell, das bedeutet, dass du dich zu niemandem hingezogen fühlst, richtig?” oder “Heißt das nicht, dass du mit niemandem zusammen sein willst?” antworten. Beide Fragen sind falsch gestellt und können für asexuelle Menschen und Ass-Personen entkräftend sein, sind aber in der heutigen Zeit nach wie vor gängige Vorstellungen von Asexualität. Dies fördert die falsche Vorstellung, dass Asexualität ein Wunsch ist, allein zu sein, oder einfach ein völliges Fehlen von Anziehung, was nicht die Erfahrungen der meisten Ass-Menschen widerspiegelt.
Vieles davon rührt von der Vorstellung her, dass, um sich zu jemandem hingezogen zu fühlen, ein sexuelles Element in dieser Anziehung vorhanden sein muss. Wenn ich als asexuelle Person, die sich zu Männern hingezogen fühlt, anderen gegenüber zum Ausdruck bringe, dass ich mich zu Männern hingezogen fühle, ohne einen weiteren Kontext zu nennen, wird diese Anziehung schnell automatisch als sexuell angesehen. Diese Wahrnehmung, dass Anziehung automatisch sexuell ist, hat Auswirkungen sowohl für asexuelle als auch für nicht asexuelle Menschen, insbesondere für diejenigen, die verschiedene oder widersprüchliche Formen der Anziehung gleichzeitig erleben. Wie können wir als Ace- und Non-Ace-Personen diese verallgemeinerten Wahrnehmungen von Anziehung bekämpfen? In einem ersten Schritt muss das Bewusstsein für verschiedene Formen der Anziehung, die über das Sexuelle hinausgehen, im öffentlichen Bewusstsein verankert werden. Dieser Artikel dient als Einführung in die verschiedenen Formen der Anziehung und anschließend als Ressource, die versucht, deren Komplexität und Überschneidungen in aller Kürze darzustellen.
Sexuelle Anziehung: Die Anziehung zu einer anderen Person, die den Wunsch nach sexueller Aktivität auslöst, wobei es sich meistens, aber nicht immer, um Geschlechtsverkehr handelt. Sich sexuell zu einer Person hingezogen zu fühlen, setzt den Wunsch voraus, mit ihr in sexuellen Kontakt zu treten oder auf eine Weise erregt zu werden, die ein solches Interesse hervorruft. Diese Anziehung kann sowohl auf körperlichen Eigenschaften der betreffenden Person(en) als auch auf anderen nicht-körperlichen Aspekten beruhen, bleibt jedoch mit sexuellem Verlangen oder dem Wunsch nach sexuellem Kontakt mit dieser Person(en) verbunden.
Romantische Anziehung: Die Anziehung zu einer anderen Person (bzw. zu anderen Personen), die auf dem Wunsch beruht, einen Kontakt zu erleben, der als “romantisch” bezeichnet werden kann. Wie romantische Anziehung definiert wird, bleibt relativ unbestimmt, weicht jedoch deutlich von sexueller Anziehung ab und ist häufig mit dem Wunsch verbunden, eine romantische Beziehung zu einer anderen Person einzugehen. Ähnlich wie bei der sexuellen Anziehung kann man auch heteroromantisch, homoromantisch, biromantisch, aromantisch und mehr sein. Romantische Anziehungskraft muss nicht mit sexueller Anziehungskraft übereinstimmen, was am deutlichsten in der asexuellen Erfahrung zum Ausdruck kommt. Asexuelle Menschen können sowohl asexuell sein als auch eine romantische Anziehung zu jeder oder keiner Person haben.
Ästhetische Anziehung: Anziehungskraft, die auf einer visuellen Wertschätzung oder Faszination der körperlichen Erscheinung oder der Anziehungskraft einer anderen Person oder anderer Personen beruht. Ästhetische Anziehung kann völlig losgelöst von sexueller Anziehung (wie bei asexuellen Menschen) oder romantischer Anziehung (wie bei aromantischen Menschen) sein und berücksichtigt stattdessen die visuelle Ästhetik einer anderen Person (oder mehrerer Personen). Man könnte es so beschreiben, dass man die Schönheit einer besonders eindrucksvollen natürlichen Umgebung schätzt oder von ihr fasziniert ist. Man kann das Gefühl haben, dass die betreffende Person einfach visuell faszinierender ist als andere, aber nicht unbedingt aufgrund einer sexuellen oder romantischen Komponente, die mit der Anziehung verbunden ist.
Sinnliche Anziehung: Anziehungskraft, die auf der Neigung oder Leidenschaft beruht, sich mit einer anderen Person auf eine Art und Weise zu beschäftigen, die als körperlich oder taktil beschrieben werden kann und die sich mit einem der Sinne überschneidet, aber nicht sexuell ist. Sinnliche Anziehung kann den Wunsch beinhalten, sich zu umarmen, zu küssen, zu kuscheln, die Hand einer anderen Person zu halten usw., aber nicht den Wunsch nach sexuellen Aktivitäten oder Engagement. Sie kann auch die Befriedigung oder Erregung durch eine andere Person oder Personen durch andere Sinneserfahrungen, wie z. B. den Geruch, beinhalten. Sinnliche Anziehung ist auch nicht notwendigerweise mit einer anderen Form der Anziehung verbunden, sei es sexuell, romantisch, ästhetisch oder anderweitig.
Emotionale Anziehung: Anziehungskraft, die eher auf der Persönlichkeit als auf der körperlichen Erscheinung einer anderen Person beruht. Emotionale Anziehung beinhaltet oder repräsentiert oft den Wunsch, mit einer anderen Person in nicht-taktilem Kontakt zu stehen, um eine emotionale und persönliche Bindung zu ihr aufzubauen, zu fördern oder zu erhalten. Man kann sich von einer Person aufgrund ihrer Persönlichkeit oder Aura fasziniert oder angezogen fühlen, was dazu führen kann, dass man zunehmend in ihrer Nähe sein möchte, ohne dass dies etwas Sexuelles, Romantisches, Ästhetisches, Sinnliches oder Körperliches im Allgemeinen beinhaltet.
Intellektuelle Anziehung: Anziehungskraft, die den Wunsch beinhaltet, eine intellektuelle oder geistige Verbindung oder ein Engagement mit einer anderen Person (oder anderen Personen) aufzubauen, zu fördern oder zu erhalten. Intellektuelle Anziehung kann eine geistige Verbindung zu einer Person beinhalten, die vom Rest ihres Körpers getrennt ist. Sie setzt sich damit auseinander, was die betreffende(n) Person(en) denkt(en), und schließt möglicherweise den Wunsch ein, mit dieser(n) Person(en) in intellektueller oder geistiger Hinsicht weiter zu interagieren oder sich mit ihr zu beschäftigen, ohne dass damit notwendigerweise eine andere Form der Anziehung verbunden ist.
Am wichtigsten ist, dass diese Untersuchung gezeigt hat, dass Anziehungen nicht notwendigerweise kongruent oder “gleichgeschaltet” sein müssen. Nur weil jemand heterosexuell ist, bedeutet das nicht, dass er heteromantische Anziehung erfährt, oder sogar das, was man als heteroästhetische oder heterosensorische Anziehung usw. bezeichnen könnte. In gleicher Weise können asexuelle Menschen panromantisch und homosensuell, aromantisch und heteroästhetisch, homoromantisch und asensuell sein. Natürlich können diese verschiedenen Formen der Anziehung auch parallel zueinander verlaufen, was oft der Fall ist. Aber nur weil jemand angibt, dass er sich sexuell zu Männern hingezogen fühlt, heißt das nicht, dass man daraus auch auf seine romantischen, ästhetischen, sinnlichen, emotionalen oder intellektuellen Empfindungen schließen sollte. Anziehung ist ein komplexes Phänomen, das viel zu komplex ist, um auf das Sexuelle reduziert zu werden. Es ist die asexuelle Erfahrung, die eine erste Erkundung dieser notwendigen Untersuchung ermöglicht hat.